Und wenn ich einfach nur hier hinten sitze? Folge 1

von Darren Grundorf

erschienen in Kommunikaze 18, April/Mai 2006


Mit dem Rücken an der Wand schlägt der Einzelhandel hilflos um sich und zieht die letzten Register: Attraktionen, tolle Preise und ein Extra-Dreh - Konfetti, Puderzucker und Pappmaschee für alle! Bei so viel Spaß vergessen die Strategen hinter dem Tresen oft das Wichtigste – den Überlebenswillen des Kunden.

Hubertus Apotheke Herford, ein nasskalter Januarmorgen, und ich liege im Sterben. Ein Schmerz durchzuckt meinen Gehörgang, in den Nasennebenhöhlen stopft es sich, ein dumpfer Gong schlägt triumphierend durch die Birne, und aus den Atemwegen dröhnt tief ein hohles Windgestöhn. Ich fühle mich tot und wähne mich der Welt fast schon abhanden gekommen. Dennoch trage ich tapfer, wenn auch schwankend, meine schweren Glieder und mein ermattetes Gemüt in Richtung Apotheke. Mein einfacher Plan (Aufzählung der Symptome, Entegegennahme der Medikamente und wieder nach hause) schlägt aber fehl.

Mein eigentliches Problem, so muss ich bald erkennen, ist dabei weniger meine Krankheit als vielmehr meine unzureichende Vorbereitung. Im Beratungsgespräch am Apothekentresen stehe ich auf in jeder Hinsicht auf wackligen Beinen und muss schon beim Thema Husten passen. „Ist es eher ein Reizhusten, oder ist der Husten eher feucht?“, lächelt die junge Apothekerin mich so mitfühlend wie erwartungsvoll an. Dazu hatte ich mir noch gar keine Gedanken gemacht, also klappere ich mit schmerzendem Kopf unbeholfen ein fragendes „feucht?“ in den Raum. Angelika, so heißt die junge Dame hinter dem Tresen, gibt mir zwischen den Zeilen zu verstehen, dass sie hier die Fragen stellt, nicht ohne ihr aufgesetztes Grinsen dabei zu vernachlässigen.

Und so kann ich auch in Sachen Nase - „Sind die Schleimhäute eher geschwollen oder eher gespannt?“ - nur Mutmaßungen anstellen. Ich weiß es nicht, denke und fühle aber, dass im Grunde alles geschwollen und nichts weniger gereizt ist als der Rest, und dass mein Zustand sich zunehmend verschlechtert. Ich spüre förmlich, wie die Schwäche mehr und mehr Herr über meine Glieder wird. Beunruhigt stehe ich da in der Angst, der Kreislauf könne jeden Moment sein Letztes tun.  „Ist es eher ein Kratzen oder ein Drücken im Hals?“, erkundigt sich Angelika gewohnt fröhlich. „Darf man auch beides sagen?“, frage ich vorsichtig zurück. Darf man nicht. „Na, das müsste ich schon genauer wissen, sonst gebe ich ihnen noch etwas Falsches mit“, entgegnet die Apothekerin. Ein Schüttelfrost überfällt mich, und fast knicken mir die Beine ein. Die Konversation wird zunehmend komplizierter. „Nun? Ein stechender Schmerz?“ „Wie meinen?“, entgegne ich leise. „Bitte?“, fragt Angelika. „Welches Organ?“, röchele ich. – „Ein stechender Schmerz?“, hakt die Apothekerin noch einmal nach. Leck mich doch am Arsch, du dummes Huhn, denke ich und ein unmissverständliches „Jaaargh!“, bricht schmerzhaft aus mir heraus. In diesem Augenblick verlässt mich das Gleichgewicht. Ich kippe nach vorne, finde aber Halt am Tresen.

Na endlich. Angelika dreht sich um, um in den zahlreichen Schubladen nach Medikamenten zu suchen. Mach schon, denke ich bei mir, bevor sich mein Bewusstsein auch noch ausschaltet. Ich muss nach hause ins Bett und verwerfe die Überlegung, ihr mitzuteilen, dass ich auch Fieber habe. Ich bleibe stumm und versuche mich krampfhaft am Tresen zu halten. „Also, bei gespannten Schleimhäuten würde ich eher ich zu einem Nasenspray auf biotonischer Basis raten...“, erklärt Angelika  vom Schubladenregal aus. „Ach was?“, raune ich ihr entgegen, aber meine Meinung tut hier eh nichts mehr zur Sache: Angelika hat mittlerweile die Initiative übernommen und entscheidet kurzerhand selbst, welche Schmerz-Symptome wohl am besten meinem Typ entsprechen. Immerhin steht ein buntes Potpourri an Arznei neben der Kasse, als ich wieder zu mir komme und mir die Apothekerin munter unter die Arme greift, um mich zurück auf Thekenhöhe zu ziehen.

Obwohl ich schon die Taler in den Taschen suche, darf ich nicht gleich zahlen. „Halt!“, brüllt Angelika mir lauthals entgegen, als ginge es um mein Leben ,und vielleicht geht es das in diesem Augenblick ja auch schon. Immerhin gelange ich dadurch definitiv zu der Überzeugung, dass es sich zumindest bei den Ohren um einen stechenden Schmerz handelt. „Aktionswoche! Was sie jetzt würfeln, geht an Prozenten vom Preis ab!“, singt mir die Apothekerin fröhlich entgegen. „Hmpf“, erwidert mein taubes Gemüt, als sie mir auch schon einen Würfelbecher in die Hand drückt. Eine weitere Angestellte ist herbeigeeilt, aufgescheucht von dem Wort „Aktionswoche“ hat Jutta, so ihr Name, das Lager verlassen und drängt sich nun in Erwartung meines Glückswurfs ganz aufgeregt an Angelikas Seite. Verdutzt schaue ich die beiden noch eine Sekunde lang an, bevor ich mich mühevoll aufrichte, um mit großem Kraftaufwand und bar jeder Motorik den Becher samt Zahlensteinen hinter der Theke im Em-Eukal-Regal zu platzieren.

Die beiden Apothekerinnen schauen dem spektakulären Wurf noch eine Weile nach, mein Kopf schlägt derweil dumpf auf die Tresenoberfläche. „Das war wohl nichts!“, bemerkt Angelika schnippisch und steckt mir den Becher ein zweites Mal in die Hand. „Noch mal!, noch mal!“, hüpft und klatscht Jutta freudig daneben. Diesmal steht der Becher ein paar Sekunden in meiner Hand, ehe er sich nun nur noch müde zur Seite legt und die Würfel sich mühevoll den Weg auf die Theke suchen. „Prima!, schreit Jutta“ „Prima“, jubelt auch Angelika. „Eine eins und eine zwei. Macht...drei Prozent  weniger. Also ... 76, 95 Euro!“ Die beiden Apothekerinnen freuen sich mit mir. Dann drückt Angelika mir die Tüte in die Hand, Jutta dreht mich herum und gibt mir einen Schubs in Richtung Ausgang. Gott sei dank, scheiß aufs Fieber. Hauptsache raus hier. Schön, wie die Beine den vor sich hinbaumelnden Oberkörper im schwachen Takt geradeaus tragen.

Jetzt einfach nicht mehr stehen bleiben, und ich bin fast schon zu hause, denke ich erleichtert, als es mich kurz vor der Tür nach links hinfort reißt. Angelika hat meinen Arm erfasst und schleppt mich hinüber in eine Ecke „Das hätte ich doch glatt vergessen!“, triumphiert sie begeistert.  „Wir müssen doch erst noch am Glücksrad drehen!“ - „Am Glücksrad?“, überlege ich benommen, während Angelika meine Hand schon am selben befestigt und uns Schwung gegeben hat.  Und so drehen wir uns dann eine Weile. Erst dreht sich das Glücksrad, dann dreht sich der Raum, dann drehe ich mich, und dann reißt es uns alle gemeinsam zu Boden.

Während wir in die Warenauslage scheppern, und das Rad mein Gesicht begräbt, stürzt hastig ein aufgebrachter junger Mann in den Laden und brüllt ein aufgeregtes „Hilfe, ich bin angeschossen worden!“ durch den Raum -  „Ist es mehr ein Steckschuss oder eher ein Durchschuss?“, erkundigt sich Jutta von der Theke aus. Vorne im Schaufenster verlässt mühsam ersterbend ein letztes Röcheln meine Lippen. „Na, das hört sich jetzt aber doch eher nach einem Reizhusten an!“, stellt Angelika besorgt fest. „Hmpf!“, erwidere ich ein letztes Mal. „Hmpf!“   

Lesen Sie in der nächsten Folge:
Warum Feuilleton-Chefredakteur Darren Grundorf  im Städtischen Theater Pirna nicht in den Orchestergraben ejakulieren will.