Was macht eigentlich meine Familie?

von Penelope Proust



erschienen in Kommunikaze 19, Juni 2006

Durch die großen Fenster fällt Licht auf lange Tische. Darunter glänzt das Parkett. Von Tischdecken mit Spitzenrand blitzt Silberbesteck. Bleierner Geruch von Sommerblumen dringt in meine Nase, während ich ertrage, was unvermeidbar scheint.



Zwei Menschen betreten den Raum. Der eine, mein Bruder: im schicken Anzug. Der zweite, seine Frau. Seit genau zwei Stunden. Sie quietscht, als er ihr schwungvoll unter den Hintern packt, um sie über die Türschwelle zu heben. Was dann folgt, ist weniger feierlich: Ein paar finstere Gesichter lugen hinter dem Brautpaar durch die Tür.

Meine Familie. An Onkel Gustav, im Stammbaum taucht sein Name flüchtig auf (halb rechte Position, zweite Reihe von unten), erinnere ich mich erst, als er penetrant auf den Arsch der Kellnerin glotzt. Er wischt sich noch schnell den langen Speichelfaden ab, der sich von seinem dünnen Mund aus bis zur Wölbung seines Bauches spannt und kippt das erste Glas Sekt seinen speckigen Hals hinunter.



Bei den anderen Gesichtern, die sich vor dem Brautpaar aufbauen, hege ich seit langem Bedenken. Gleiche Gene, gleiche Herkunft, schier unmöglich. Höflich schüttelt die Braut Hände, nimmt Glückwünsche entgegen und überhört gekonnte Dreistigkeiten. „Na, da hattet ihrs aber eilig, wat?“ Der Speichelonkel reicht der Braut lasch die fettige Hand und zeigt mit der anderen auf ihren wohlgenährten Bauch. „Haha, is wohl schon wat unterwegs, hä?“ Ihr Gesicht als Regenbogen: Von gelblich Weiß auf Dunkelrot zu einem satten Apricot wechselt ihre Hautfarbe in nur drei Sekunden, bevor sie souverän entgegnet: „Schwanger nein, fett ja!“ Ohne weitere Zeit zu vergeuden wendet sie sich anderen Gästen zu.



Meine Cousine. Im Familienbuch steht ihr Name in der letzten Reihe, direkt neben meinem. Tochter der Schwester meines Vaters. Für die Hochzeit hat sie sich extra schön gemacht: Ihr schweineartiger Hängebauch ist in zartrosa Plastikstoff gepackt, das am Rücken leider ein zweites Dekolleté  entblößt. Nun kann man gar nicht mehr erkennen, wo vorne und hinten ist. Überall kommt Kacke raus. Ein Tarnungsversuch. Der Designer ihres rosa Zeltes das Problem erkannt und pragmatisch gelöst: Eine riesengroße pinkfarbene Schleife markiert die Hinterseite: von der körperlichen Nordhalbkugel, kurz unter dem Rückendekolleté, über den kraterübersäten Äquator bis zur Kniebeuge kräuselt sich die Tüllschleife in kleinen Maschen. Höflich schüttelt sie die Hände des Brautpaares und stürmt zum Büfett.



Vorbei rollt meine Oma, die einzige gescheite Person in dieser Familie. Sie verteidigt die Ehre der dritten Stammbaumreihe von unten und ist die letzte ihrer Generation, die anderen haben zwei Weltkriege oder der Schrecken über ihre Nachfahren hinweggerafft. Ein solides Ursprungsgen steckt in dieser Frau. Durch äußere Einflüsse vermischt und mutiert, zeigt es die hässliche Fratze der Veränderung. Die Beine meiner Oma stellten nach 100 Jahren das Laufen ein, ihr Harn rennt umso mehr. Noch schwimmt er friedlich in seiner Blase, ungewiss, wann er sich das nächste Mal ungebremst den Weg ins Freie bahnen wird. Die Trockenzeit nutzt Oma immerhin für aufrichtige Glückwünsche.



Neben mir sitzt mein Vater und schweigt. Aus ideologischen Gründen hat er sich zu dieser Position durchgerungen, wenn sich wieder einmal jemand entschließt, unseren seltsamen Stammbaum um einen Ast zu verlängern. Ihm leuchtet nicht ein, was daran zu feiern wäre. Seine einzige Beschäftigung: Im Minutentakt bewirft er seinen Speichel-Schwager Gustav mit tödlichen Blicken. Der kontert mit bekannten Methoden: Neuankömmlinge begrüßt er mit dem Hitler-Gruß, ein forderndes Grinsen in Papas Richtung inklusive.



Unsere Familie ist die Schaubühne aller gesellschaftlichen Konflikte: rechts gegen extrem links, unglaublich dick gegen dünn, schlau gegen scheiße blöd und natürlich alt gegen jung. Eine erstaunliche Verbindung dieser Konflikte bringt ein verwandtes Ehepaar aus der zweiten Stammbaumreihe mit. Meine Großtante Brigitte und ihr Mann Otto. In der Ehe der zwei kämpfen dick (Brigitte)  gegen dünn (Otto) und extrem blöd (Otto) gegen unglaublich scheiße (Brigitte). Nur, dass Otto davon nicht so viel zeigt. Er spricht schon seit ein paar Jahren nicht mehr. Seine Frau redet für ihn mit.



Die zwei sitzen am anderen Ende des langen Tisches. Sie kümmert sich klassisch um das leibliche Wohl. Unmengen von Kuchen türmen sich kurzzeitig auf ihrem Teller. Als sie fünf Stücke Nusstorte verdrückt hat, bemerkt sie den kritischen Blick meines Bruders. Langsam betrachtet er das ausladende Hinterteil der Großtante. Sie wechselt ihre Strategie. Liebevoll dreht sie sich zu Karl-Heinz um: „Otto, iss doch noch ein Stückchen.“ Sagt sie und hievt als Antwort ein Drittel Schwarzwälder Kirschtorte auf seinen Teller.“ Der dünne Otto freut sich und greift hastig zur Gabel, selten hat er bislang soviel Gutes auf seinem Teller erblickt. Nach zwei genussvollen Bissen legt er allerdings nicht schnell genug nach. „Ach, bist du schon satt, mein Schatz“, dröhnt es von der Seite. Brigitte zieht am Teller und sagt laut mampfend: „Otto, eine Sünde, eine Sünde, diese Torte stehen zu lassen.“ Otto läuft eine Träne die Wange hinunter. Sie wischt sie schnell weg. 



Währenddessen auf der anderen Seite des Tisches: Meine Cousine erhebt sich von ihrem Stuhl, der erleichtert krächzt. „Ich hab was vorbereitet“ grölt sie und ein monotones „Aaah!“ steigt aus dem Dunst der Hochzeitsgesellschaft auf. „Jaa, Dankeschön, Dankeschön, und los geht’s: erste Strophe!“ Der rosa Berg mit Schleifenschmuck baut sich in voller Montur neben den Tischen auf und leiert: „Unglaublich aber wahr, Braut und Bräutigam sagen Ja. Nun stimmen wir recht fröhlich ein, die Braut will Teil der Familie…“
Die Braut scheint noch so ihre Zweifel zu haben. Sie steckt sich die Finger in die Ohren.

Als die Tortur vorüber ist, geht die Party endlich richtig los. Die One-Man-Band spielt Hits wie Maccarena und Cotton-Eye Joe. Die Party gewinnt an Fahrt. Auch die Tanzfläche ist voll. Gefüllt mit dem pinken Tüllmonster, das laut singend die Choreographie zu seinen Lieblingshits vorführt.  Für mehr Körper bleibt da kein Platz.



Mein Vater wirft kleine Juckpulver-Kügelchen in Richtung Onkel Gustav. Er ist gerüstet für den Nahkampf. Gustav dankt es ihm mit ein paar besonders lauten Ausländerwitzen, die er Oma ins Ohr schreit, die kein Wort versteht. Da trifft das pulvrige Kügelchen aus den Händen meines Papas das Haupt des bösen Onkels. Der köpft das giftige Rund gekonnt in den Ausschnitt meiner Oma, die sich nervös zu kratzen beginnt.

Aus den Boxen dröhnt es: „Hee, Maccarena!“.

Als die Cousine mit einem donnergleichen Sprung auf dem Parkett landet, entscheidet sich der Urin meiner Oma, die heimelige Blase zu verlassen. Alle Dämme brechen. Das gelbe Nass flutet den glänzenden Parkettboden. Prompt rutscht die Cousine beim Popo-Wackeln aus und fällt auf die monströse Tüllschleife. Nicht ohne Wirkung: Ein Erdbeben erschüttert den Raum, und peitscht Wellen von Omas Säften in Richtung Büffettisch.


Eine erstaunte Tante Brigitte versucht noch die Brandung vor ihrem Kuchenteller zu stoppen, aber selbst ihr sandsackgleicher Körper mag gegen die Macht des Wassers nichts ausrichten. Ein letztes Stück schiebt sie sich noch in den Mund, bevor sich Sahnecreme und gelber Harn zu einer hellbraunen Masse vereinen.


Onkel Gustav fischt das Juckpulver aus dem Ausschnitt meiner Oma und brüllt lautstark auf meinen Vater ein. Bei diesem Kerl ist nur Gewalt eine Lösung: Mein Vater springt auf und schlingt seine Hände um den Rinderhals des Zellhaufens aus Stammbaumreihe zwei. Und drückt zu. Ich lache ein bisschen und warte auf den Zeitpunkt, indem das rot zu gräulichem weiß wird.

 

Da hechtet mein Bruder über die Tische, greift Papa von hinten unter die Arme und lockert den Würgegriff. Welch Fehler! Mit seinen fetten Fingern schnappt sich der wütende Onkel gleich beide Hälse. „Der Kommunist und seine Brut, das hätte man früher schon viel eher mit euch gemacht!“ lacht er dreckig und verstärkt den Griff. Die zwei japsen ein letztes „Hilfe“.

Die Heldin der Ahnenreihe, verantwortlich für die Flutkatastrophe, brettert in letzter Sekunde wegen Aquaplaning mit ihrem elektrischen Rollstuhl gegen Onkel Gustav und zwingt ihn zu Boden. Im seichten Pipiwasser prallt er mit dem Kopf auf und verliert das Bewusstsein.  Die Hochzeit hat plötzlich einen Sinn.

 

Die Braut sitzt in der Ecke, gleich neben mir. Verstört schaut sie geradeaus. Ich zücke ein hellbraunes Papier aus meiner Jackentasche. Zwei Namen stehen am oberen Ende. Sie hat noch nie von ihnen gehört. Dünne Striche gehen von ihnen ab, immer mehr Namen kommen hinzu, sie werden bekannter. Ganz unten, neben dem meines Bruders, steht ihrer. Die Tinte ist noch nicht einmal richtig getrocknet. „Willkommen“, sage ich. Sie schreit.