Es hackt

von Penelope Proust


erschienen in Kommunikaze 18, April/Mai 2006

Als sie durch die Tür tritt, riecht sie es. Aus allen Poren dieses Hauses strömt der Geruch.  Allgegenwärtig, in ihrem Zimmer, ein ständiger Begleiter im Keller, auf dem Dach überall. Sie verzieht sich in ihr Zimmer. Sie weiß, was passiert. Sie hat Angst. Tief in ihrem Inneren steigt es auf. Sie hasst sich selbst. Sie ekelt sich, sie verabscheut diesen Tag.
Die Tür ihres Zimmers hat sie geschlossen und unten vor die Ritze Handtücher gestopft. Jede noch so kleine Öffnung ihres Zimmers muss  verschlossen sein. Er darf nicht eindringen, dieser Feind, er darf sie nicht haben. Es ist ein Kampf den sie da kämpft, ein Kampf gegen diese Dämpfe, ein Kampf gegen diese gedankenlosen, Hirnverbrannten und vor allem: ein Kampf gegen sich selbst.

Dieses Haus ist ein Gräuel. Sie sieht es vor sich, dieses fettige alte Gesicht, dessen Gene ihren Körper vergiften. Wie er da sitzt und nicht spricht, wie er sich neue Foltermethoden ausdenkt, wie er sie beobachtet, wenn sie sich durch dieses verseuchte Haus bewegt und versucht, gegen ihn anzukämpfen. Dieses innerliche Lachen, diese Genugtuung, die sich in seinem Gesicht ausbreitet, wenn er wieder sieht, dass sie ihre Tür verriegelt, dass sie Angst hat. Sie hasst ihn für dieses hämische Grinsen, wenn sie einen Moment der Schwäche zeigt. Einmal kurz die Augen schließt und atmet. Krieg herrscht in diesem Haus, seitdem sie 14 ist, seitdem sie erkannt hat, dass auf ihrem Teller Leichen liegen, seitdem sie erkannt hat, dass er das seit langem weiß.

Die erste Schlacht gewann er nicht. Sie erinnert sich. Ihr Vater am Tisch und vor ihm eine Hähnchenkeule. Sie hört die Todesschreie des Vogels und sieht wie er genüsslich den Mund öffnet, er verschlingt ihn und er lächelt dabei. Er kaut ein paar Mal, zerquetscht zuerst die Membran des Tieres und lässt die Körpersäfte in seinen Mund strömen. Dann kaut er weiter, trennt langsam die Fasern des Fleisches voneinander und lässt von dem stolzen Hahn nichts als einen Haufen beige-weißen Knorpel in seinem Magen zurück. Sie könnte kotzen. Sie tut es auch. Mitten auf den Tisch. Aber ihr Vater grinst nur. „Du willst es doch auch“, sagen seine Augen. „Schau und sieh dir diesen Genuss an, den du nicht haben kannst.“ Es herrscht Krieg. Seit diesem Tag kämpfen sie mit allen Mitteln gegeneinander.

Und jetzt liegt sie in ihrem Zimmer. Sie wagt nicht zu atmen, sie wagt nicht zu sprechen. Regungslos liegt sie auf ihrem Bett und wartet. Sie wartet auf den nächsten Tag, den nächsten Morgen, sie versucht sich abzulenken, denkt an Tofu- Würstchen und an Magerquark. Der Geruch muss verfliegen, sie muss ihn wegdenken. Sie schließt die Augen und hofft, dass sie einschläft, diesen Geruch nach frischem Hackfleisch in ihre Träume trägt. Sie seufzt. Es kitzelt in ihrer Nase. Dieser leicht herbe, vollmundige Geruch liegt wie Blei auf ihrem Körper. Sie kann sich nicht wehren. Er dringt durch die Türritze, durch das Handtuch, durch ihre Haut bis in ihre Kehle. Sie schmeckt das würzige, milde Hackfleisch und fühlt die körnige Masse auf ihrer Zunge. „Tote Tiere kannst du nicht essen“ schreit ihr Gehirn. Vor ihrem Auge liegt eine Brötchenhälfte. In Zeitlupe fällt ein Salatblatt darauf, vorsichtig schwebt ein perfekt rundes Hackstück darüber, und die zweite Brötchenhälfte senkt sich behutsam auf das gebratene Fleisch. Groß und saftig sieht sie den Burger vor sich, riecht das brutzelnde Fett in der Pfanne, hört das Zischen des Hacks, wenn es im Öl versinkt. Sie schmeckt Bolognesesauce auf der Zunge. Ihr Kopf ruft: „Kühe sind heilig“, sie schmachtet nach Lasagne, frischem Käse auf glänzend schimmerndem Hack, kross und braun gebraten. „Du Mörder, du Bestie!“ hallt es hohl hinter ihrer Stirn. Wasser sammelt sich in ihrem Mund, es schmeckt nach frischer Frikadelle, würzig vermischt sich die leichtherbe, zarte Masse mit dem wässrigen Speichel, sie hält es nicht mehr aus. Ihr Gehirn schweigt. Aus ihren Mundwinkeln läuft es.

Sie steht auf und wühlt die Handtücher vor ihrer Tür weg. Sie drückt die Klinke herunter, und eine Flut Hackgeruch schwappt in ihre Nase, durch den Kopf und begräbt alle aufrechten Zweifel des Gehirns unter sich. Sie folgt dem Geruch. Wie in Trance steigt sie die Treppe herunter, willenlos geführt von den Dämpfen ihrer einzigen Sucht. Die Küchentür steht sperrangelweit offen. Er sitzt in ihrem Weg und lächelt. Sie sieht ihn nicht. Sie sieht nur den Herd, die heiße Pfanne, die ihre Quelle ist, die sie erreichen muss. Sie rempelt ihn um, wendet die Augen nicht ab von ihrem Ziel. Sie  erblickt das kross gebratene Hackfleisch. In unzählbar viele kleine Würstchen zusammengerollt liegt es heiß und dunkelbraun in der Pfanne. Sie greift sich einen großen Löffel, und belädt ihn mit Gehacktem. Sie schließt die Augen und wartet auf den Höhepunkt des Genusses. Und dann. Ein lauter Knall. Der Löffel fliegt zu Boden, die Pfanne schwebt in der Luft und verschwindet blitzartig aus ihrem Sichtfeld. Sie dreht sich um und prallt gegen einen massigen Körper. Er hält in der linken Hand die Pfanne und in der rechten eine mit Hackfleisch beladene Suppenkelle. „eins zu null“ grinst er, schüttet die Kelle über seinem Mund aus und reicht ihr eine Dose Magerquark.