Geringe Erwartungen

von Anna Groß

erschienen in Kommunikaze 15, November 2005

Meine Schwester hat ihre Entwicklungsjahre regungslos vor dem Fernseher  liegend verbracht. Das ist so das Bild, das ich jetzt noch von ihr vor Augen hab: Die lang ausgestreckte Gestalt in grauen Strick gewickelt, gelangweilt mit ausdruckslosem Gesicht auf den Fernseher starrend. Ab und zu hebt sie den Arm, um die batterieschwache Fernbedienung auf ihr Ziel zu richten. Die einzige zumutbare Anstrengung.

Daran muss ich jetzt denken, wo mein Knie weh tut, wenn ich die Kupplung trete. Meine kleine Schwester, die im Hochsommer im abgedunkelten Wohnzimmer im dicken Strickmantel auf dem Sofa liegt und Fernsehen guckt und darüber klagt, dass es kalt ist.
Meine kleine Schwester war so faul. Sie war so faul, dass sie schon in der Grundschule im Sport als wehleidig galt und sich ununterbrochen die Schnürsenkel neu band. Hat sich immer fangen lassen und ist als erste abgeworfen worden. Für den Schulweg von einem knappen Kilometer brauchte sie eine dreiviertel Stunde. Ich glaube, sie hat es in ihrer ganzen Schulzeit geschafft, nicht eine Aufgabe zu Ende zu bringen.

Sie benahm sich unmöglich! Weil sie keine Lust hatte, allein nach der evangelischen Jugendgruppe nach Hause zu gehen, behauptete sie, ein Exhibitionist hätte sie belästigt. Um nicht abwaschen zu müssen, täuschte sie vor, ich hätte ihr im Streit den Arm gebrochen. 6 Wochen trug sie eine Armschiene und musste mit der anderen Hand umschalten.
Gewisse Grenzen sollte man aufgrund der Glaubwürdigkeit einhalten, denke ich.

Einmal hat sie mir erzählt, die neue Französischlehrerin, die immer so streng und so grob war, hieße Francoise de Groppe und wenn man es schaffte, ihr zu gefallen, nahm sie einen in den Arm und drückte einen so fest, dass einem die Luft wegblieb! Schlimmer war jedoch, dass diese Frau so eine spitze Nase hatte, dass sie den Kindern blaue Flecken und Schrammen damit zufügte. Bei dem Gedanken muss ich immer laut lachen.

Ich weiß nicht, wer so alles ihre Freunde waren. Eine zeitlang, als ich schon ausgezogen war, kam immer eine Freundin von ihr, und sie haben zusammen  Asia Nudel Snacks gegessen und Mila Superstar und Sailor Moon angeschaut. Diese Freundin hat sie dann wohl auch gefunden.

Jedenfalls ist das Schlimmste für mich, dass es einfach keinen Ausschlag gebenden Grund dafür gab, dass sie sich das Leben genommen hat. Das Skalpell, dass sie benutzt hat, lag schon ewig dort auf dem Wohnzimmertisch rum. Mein Vater hat damit immer seine Zigarren angeschnitten. An den aufgeschnittenen Pulsadern wäre sie so auch gar nicht gestorben, aber die Wunden haben sich infiziert, und das ist es dann gewesen.

Das denke ich alles beim Autofahren, weil beim Kuppeln mein Knie weh tut und ich finde es irgendwie schwierig, seitdem mein Leben in geordneten Bahnen weiter zu führen. Ohne einen Grund. Ohne irgendwelche Erwartungen. In Japan müssen die Eltern eine ganz hohe Strafe bezahlen, wenn sich ihre Kinder umbringen. Und ich denk immer: Was können denn die Eltern dafür?