erschienen in Kommunikaze 11, November 2004
Wenn Biber Flügel hätten wäre das ganz furchtbar für die Menschheit, denn dann könnten sie fliegen Man stelle sich nur mal vor, welch grausamen Scherz sich die Schöpfung erlaubt hätte, hätte sie Europas größte Nagetiere mit den anatomischen Voraussetzungen für diese Art der Fortbewegung ausgestattet. Nicht Ratten, nicht Tauben oder Krähen, Kakerlaken oder Kaninchen nein, Biber hätten in den Top Ten der Kulturfolger der Menschheit die Spitzenposition inne. Mit ihren scharfen Beißwerkzeugen würden sie an Bauten und lieb gewonnenem Technikgut ihre Spuren hinterlassen, Marderschäden wären den Autobesitzern noch ganz lieb gegen das, was ein Biber aus ihrem Fortbewegungsmittel machen würde. Die Unesco könnte ihre Liste des Weltkulturerbes einer Papierverwertungsanlage zuführen, da nach und nach immer mehr kulturhistorisch wertvolle Denkmäler wegen irreparablen Biber-Verbisses mit einem hässlichen Knirschen unter den Mahlzangen der Abrissbagger ein unschönes Ende fänden. Ebenso die Naturräume, die von den riesigen Biberherden erst vollständig entwaldet und dann nach der Errichtung der Biberdämme in den Mittel- und Unterläufen der Flüsse weitestgehend überflutet werden würden. Haustiere hätten ein hartes Leben, denn Biber werfen im Flug gerne grob genagte Holzklötzchen auf Hunde und Katzen, um diese zu ärgern, was Muschi und Waldi nur mit Glück überleben.
Dies und noch mancherlei mehr ging mir durch den Kopf als ich verzweifelt und doch aussichtslos überlegte, wie ich meinen Vermietern die recht eindeutige Szenerie erklären sollte, die sich an diesem Sommertag zwischen meinem Küchenfenster im zweiten Stock und dem darunter befindlichen Garten in erbarmungsloser Härte ausbreitete: oben mein halb geöffnetes Fenster, unten die Freude im Leben meiner Vermieter, diesen/r guten Menschen, die mir nun schon seit zwei Jahren Zucker und Salz borgten und mir meine Zeitung vor die Wohnungstür legten, ja, dort lagen Arko, der Cocker eben jener Vermieter und mein Messerblock vereint in tödlicher Umarmung, umrahmt von etwas Blut und Knochendreck und Sabber.
Es war aber auch wirklich unglücklich, dass der Messerblock, den ich zwecks Offenhaltung meines Fensters auf die Fensterbank stellte dem Druck des Rahmens nicht mehr standhielt und, sich mit einem kurzen Nicken verabschiedend, taumelnd in die Tiefe stürzte. Mein Glück perfektionierend, ließ die Vorsehung in eben diesem Moment den treuen Hund unter meinem Fenster verweilen. Doch was nun? Die Bibergeschichte zog bestimmt nicht und mit der spurlosen Beseitigung langsam erstarrende Hundekörper hatte ich auch nicht die geringste Erfahrung. Eigentlich blieb nur noch Flucht, doch bis meine Vermieter den Vorfall entdecken würden blieben mir noch ca. drei Minuten, denn spätestens dann würde auffallen, dass Arko auf seiner Morgenrunde durch den Garten erhebliche Verspätung aufwies. Und in drei Minuten die gesamte Wohnungseinrichtung in meinen Polo zu räumen dürfte nicht funktionieren, das war mir klar. Ich entschloss mich zu dem, was so Leute wie ich meistens tun: nix.
Ich verharrte atemlos unter meinem Fensterbrett. Dann hörte ich die Balkontür aufgehen, Schritte gingen die Treppe runter, es war wie Radio. Dann ein Aufseufzen und schlurfende, gramgebeugte Schritte. Oh, Gott, dachte ich, du hast den alten Menschen die Freude ihres Lebens genommen, da hättest Du ja gleich das Haus anzünden können. Die schlurfenden schritte näherten sich wieder, ich hörte, wie ein Besen über die Waschbetonoplatten schabte. „Roswitha, halt mal den blauen Sack auf“, Kehrschaufelgeräusche und dann: „So, noch ein Eimer Wasser drüber und die Sauerei ist weg“. Meinen Messerblock habe ich nie wieder gesehen…
Ein Sommertag oder: Wenn Biber Flügel hätten
von Michael Weiner
