Auf dem Dach

von Michael Weiner

erschienen in Kommunikaze 14, Juli 2005

Durchs Fenster zu klettern mit 4 Bier in der Hand ist schwieriger als man gemeinhin denkt, zumal wenn man sich durch die eingeschlagene untere Fenstertür zwängt, mussten wir feststellen. Die leeren Zimmer durchstreiften wir vier ohne Probleme, die rostige Treppe aufs Dach ebenso. Einer nach dem anderen stieg auf das Flachdach mit seiner teerigen Dachpappe, Patrick war der erste und fluchte über unser Trödeln, die Sonne war schneller da gewesen als wir, auch wenn sie heute, einen Tag vor Sommersonnenwende, eigentlich länger hätte warten können, sie war bereits untergegangen, bevor wir den Aufstieg geschafft hatten. Orangerot glomm sie hinter dem Horizont und verhalf den wenigen Wolken zu einem letzten dramaturgischen Höhepunkt, während die Nacht von Osten her die Ahnung von blau unter ihrem Mantel verschwinden ließ, die noch an den vergangenen Tag erinnerte.

Der Mond war beinahe voll und ließ die Schornsteine und Rohre, die die Decke der Platte durchstießen, Schatten über das Dach werfen. Den Mond im Rücken, den Blick auf den Abendstern gerichtet, so verbrachten wir einige Minuten schweigend. Es wird doch noch ein orangener Tag, sagte Patrick später. Wir machten es uns gemütlich hier im fünften Stock der verfallenen, baufälligen Platte. Die Party unten, von der wir geflohen waren, hörten wir noch und wir köpften die ersten Biere und prosteten zu der Musik aus dem Nachbarhaus.

„Ob man auf das Dach dort hinten springen könnte?“, sagte Patrick und deutete auf die Gewächshäuser 20m hinter und 5m unter dem Rand des Daches. „Nein“, antworteten die anderen von uns im Chor, und Martin ergänzte; „bei dieser Höhe stirbst Du doch nicht einmal, dann brichst Du Dir doch bloß was, und bist am Ende noch querschnittsgelähmt und merk Dir: Ich schieb Dich dann nicht im Rollstuhl durch die Gegend.“ Patrick ließ ein kurzes Lachen hören, zuckte mit den Schultern und nahm noch einen Schluck Bier. Mirko nahm sich eine Flasche Bier vom Schornstein, ließ den Kronkorken fliegen, und gemeinsam standen wir noch eine Weile so da und blickten auf die Häuser und Hügel der Stadt. Ein spätes Flugzeug überflog uns und setzte zur Landung an. Einer nach dem Anderen setzten wir uns hin.

Die Dachpappe war noch ganz warm, kleine Bröckchen Teer bröselten unter unseren Fingern, wenn wir uns beim Zurücklehnen mit den Händen abstützten, um in den Himmel zu blicken, wo nach und nach immer mehr Sterne sichtbar wurden. Patrick lehnte sich an einen Schornstein und wandte sich an Mirko, „Du hast hier drei Typen: Den Nihilisten, den Halb-Nihilisten und den Moralisten. Wenn Du Probleme hast, kannst Du bei uns alle Meinungen und Antworten hören.“ So ist das bei dem Quartett, Axel fehlte, der war spazieren gegangen, Patrick, Martin und Stefan konnten jetzt für ihren Gast das kollektive Gewissen darstellen, wie es sonst bei ihnen üblich war. Hatte einer von ihnen ein Problem im Leben, dann hatte er mit den anderen drei immer drei total andere Positionen und Blickwinkel auf seine Lage, um dann selber eine Lösung zu finden; meist waren es jedoch weit mehr als drei Positionen, denn Philosophen sind von Berufs wegen schizophren.

Auch heute Abend machte die kleine Selbsthilfegruppe ihre Arbeit, auf diesem Dach, unter den 8000 Sternen träumte jeder von uns einen eigenen Tram und jeder andere hörte zu, meist dem schweigenden Blicken in den Himmel. Nie kam man zu einer einvernehmlichen Lösung, aber darum ging es ja nicht. Es ging darum beieinander zu sein, heute waren wir miteinander auf dem Dach, wo wir mit unseren Träumen vom Glück einmal abseits der lauten Partygesellschaft, fast abseits der restlichen Welt, einfach nur einmal eine Weile Ruhe hatten. Stefan merkte an, dass die Welt um uns herum viel langsamer lief, die Autos auf der nahen Bundesstraße schwammen vorbei, die Sterne legten sich mit ihrer Stetigkeit in diesem Moment über unsere hetzenden Leben. Es war ruhig hier oben, so ruhig wie lange nicht mehr.

Patrick stand auf und widmete ein Lüftungsrohr eines Schornsteins kurzerhand zum Pissoir um. Nach und nach folgten wir anderen seinem Beispiel. Die gewichtigen Fragen des Lebens und das Leben selbst ruhten jetzt. Auf dem warmen Dach ausgebreitet heulten wir den Mond an. Es war, wie es war, und es war schön. Ein kleiner Moment im Fluss des Lebens, winzig in Raum und Zeit, unvorstellbar winzig, vier Menschen wie wir auf einem Dach irgendwo im Universum, geradezu absurd. Und doch hallte unser Heulen tiefer, tief in unsere Seelen zurück. Und diese kurze Fülle der Zeit, der Augenblick, dieser Abend auf dem Dach konnte in seiner absurden Winzigkeit wirken wie ein Funke in dunkler Nacht. Nicht Vergessen fanden wir auf unserem Platz über der Welt, sondern Mut. Und hoffnungsgefüllt stiegen wir schließlich von unserem Augenblick ins Leben zurück. Das war der Abschied, der Tod des Moments und die Geburt des nächsten…