erschienen in Kommunikaze 10, Mai 2004, und in Kommunikaze 11, November 2004
Vor ein paar Tagen, es war ein Donnerstag, saßen wir wieder in unseren Klappstühlen vorm Haus, und vom vielen Lästern über die vorbeigehenden Menschen bekamen wir Hunger. Daraufhin wollte ich mit Bruno rüber zur Imbissbude gehen. Wir helfen dort immer unserem Kumpel Plaggi, und er brät uns was Feines dafür. Als wir die Straße überquerten, hatten wir gerade ein tief intellektuelles Thema drauf. Bruno erzählte mir von seinem Schwager, der in Therapie war. Bruno wollte auch schon mal in Therapie gehen, da er der einzige in seiner Familie war, der das nicht tat und er damit seine Schwierigkeiten hatte. Sein Schwager sei Exhibitionist gewesen, sagte Bruno und hatte dabei Mühe mit der Aussprache des Wortes. Er war also einer, der vor siebzigjährigen Omas sein knittriges Ding rausholte und, wenn sich die Omis dabei erschreckten, hechelte er, wobei an seiner Zunge der Speichel hinunterglitt. Er ging also in eine Therapie und galt nach deren Ende als von seiner Abart befreit, denn nun tat er es nur noch bei Frauen unter 20. In diesem Moment, als wir darüber debattierten, erfasste uns ein Autobus: Ich hatte Pech, denn durch den Zusammenstoß meines Brustkorbes mit der Busfront war ich auf der Stelle tot. Und an der Stelle, wo ich mich hin und wieder kratzte, hatte ich plötzlich Flügel.
Während ich durch meine Flügel am Rücken in die Luft hinauf gehoben wurde, konnte ich sehen, dass Bruno noch etwas mehr vom Leben hatte, da er nicht sofort das Zeitliche segnete, sondern zuvor durch die Luft flog, auf der Straße hart aufknallte, noch einmal den Bus sah, wie er auf ihn zukam und ihn mit einem klatschenden Geräusch überrollte, sodass sein Hirn seitlich wegflog und im Altpapierbehälter landete - die letzte Protesthandlung eines italienischen Zweiflers am dualen System. Daran anschließend auch beflügelt, holte mich Bruno rasch ein. Wir stiegen immer höher.
„Was ist nun?“, fragte mich Bruno. Ich sagte: „Ich weiß nicht, ob dein Schwager wirklich als geheilt gelten sollte!“ „Nein!“, meinte Bruno, „ich meine, was soll das hier mit den Flügeln?“ „Ach so“, sagte ich, „Wir sind tot!“ Bruno überlegte einen Moment lang.
„Tot? Ich denke, man sieht dann immer einen Tunnel mit Oma am anderen Ende, wie sie gerade Opas Socken stopft?“
„Ich weiß auch nicht, ich bin auch zum ersten Mal tot! Vielleicht braucht Opa im Himmel keine Socken, oder die sind im Himmel so billig, dass Oma gleich neue kauft!“ Bruno zuckte die Schulter. Er bemerkte als erstes, dass er keinen Hunger mehr hatte. Ich auch nicht. Wir stiegen immer höher, und die Menschen auf der Erde wurden immer kleiner, und das Letzte, was Bruno erkannte, und was ihn stinksauer machte, war seine Schachtel Zigaretten, die ihm der Krankenwagenfahrer aus der Tasche zog und in die seinige gleiten ließ.
Wir konnten die Erde nicht mehr sehen, als wir die Wolkendecke durchbrachen. Alles wurde ganz hell, so wie Brunos kaputter Sperrmüllfernseher, dessen Bildröhre - passend zum Besitzer - stark überaltert war. Alles wurde plötzlich hellblau und dann wiederum strahlend weiß. Ich fühlte mich irgendwie unpassend angezogen. Eine anmutig entzückende Harfenmusik erklang irgendwo von oben. Bruno sah mich skeptisch an. Dann hörten wir auf zu steigen, und vor unseren Füßen war eine flockige Wolke und vor der Wolke ein großes Holztor.
„Erzähl mir jetzt nicht, ich soll da anklopfen, und mir macht ein alter Opa mit weißem Bart auf!“, sagte Bruno. „Nein, das brauchst du nicht, da ist ‘ne Klingel!“, sagte ich und deutete darauf. Bruno betrat als erstes die Wolke, und sie hielt seinem Gewicht stand. Dann betrat ich sie. Bruno trat auf das Tor zu und betätigte die Klingel. Nichts tat sich. Daraufhin klopfte ich gegen die Tür.
Elvis öffnete uns die Tür. Er war so schleimig, wie man ihn zuletzt gekannt hatte. „Das ist Elvis!“, meinte Bruno erschrocken. „Hi!“, sagte er, „Habt Ihr schon ‘ne Nummer gezogen?“ „Nee!“, sagte Bruno. Elvis deutete auf die Nummernrolle: „Zieht mal ‘ne Nummer!“
Wir zogen eine Nummer.
Ich hatte Nummer 1 und Bruno Nummer 3. „Warum hab’ ich die Eins und Bruno die Drei?“, fragte ich das einst hüftschwingende Fettgewebe. „Ja, genau, was ist mit der Zwei?“, fragte Bruno nach. „Ja ja, die sollte eigentlich der Elektriker ziehen, der hier die Klingel reparieren sollte, aber er hat den Stromschlag überlebt. Ich weiß auch nicht, irgendwas ist da schief gelaufen!“ „Ich denke, wir sind im Himmel, und alles ist OK?“
„Hör mal“, sagte Elvis barschen Untertones, „Ich verbitte mir jede Kritik. So, los jetzt: Ich weise euch erst mal eure Wolken zu, und dann könnt ihr euch mal ein bisschen umsehen. Morgen früh ist euer letzter Termin, dann könnt ihr den lieben langen Tag tun, was ihr wollt!“
„Bei wem haben wir denn unseren Termin?“
„Ja!“, sagte Bruno, „Wenn es das Arbeitsamt ist, frag’ ich den Busfahrer, ob er den Rückwärtsgang einlegt!“
"Also, Komiker haben wir hier oben schon genug! Na, beim lieben Gott natürlich!"
Ich war erleichtert, Bruno nickte zufrieden, und wir gingen durchs Tor. Wir latschten über verschiedene Wolken und kamen dann in ein kleines Dörfchen, das sich auf einer großen Wolke befand. Über dieser Wolke schwebte eine Vielzahl von kleinen Wölkchen, von denen jedem hier eine zugewiesen wurde. Bruno hatte Nummer 100.987.654.678, und ich bekam 100.987.654.682. Bruno schwebte neben der brünstig dreinblickenden Marilyn Monroe, die ihn mit Liebsblicken und neben Janis Joplin, die ihn mit Haschischqualm benebelte. Er hatte keine Mühe, sich damit abzufinden, als Janis ihm den ersten Joint gab, und er beim Inhalieren auf Marilyns üppigen Busen sah und sie dabei mit den Händen tätschelnd umschlang.
Ich hatte wesentlich mehr Glück, ich schwebte neben irgendeinem Bauern aus dem Emsland, der von seinem Traktor überrolt worden war und der ständig etwas von seiner schlechten Ernte faselte und von seinem roten Traktor sprach, den er noch nicht abbezahlt hatte und davon, dass es ja klar war, dass ihm ein solches Schicksal wiederfahren musste, schließlich war er immer schon derjenige in seiner Familie gewesen, bei dem das Toilettenpapier ausging.
Auf der anderen Seite saß Rosa Luxemburg. Die hatte so einen exotisch gefiederten Giftnickel, einen Papagei, nur Gott weiß woher. Was mich störte, war dieses Geplapper den ganzen Nachmittag über! Erst dachte ich mir, wenn das ein Problem für dich ist, einfach den Hals umdrehen, und dann ist Ruhe! Aber wer kümmert sich dann um das Tier? Gott sei Dank blätterte sie bald in irgendwelchen Büchern, und ich hatte eine Stunde Ruhe, in der ich abpennte, bevor sie sich Karl Marx zum Kaffee einlud. Der laberte mich voll, und ich gab ihm zu verstehen, dass, wenn ich nur eine Minute Zeit hätte, er mir sein ganzes Wissen über Politik schildern könnte. Soviel hatte ich auf der Erde nicht verbrochen? Ich sprang zu Bruno rüber. "He, hör mal, ich halt' das da drüben nicht aus! Kann man hier nicht was Lustiges unternehmen?"
"Hiüag ick hak si hieu!", sagte Janis mit schmal trüben Augen und zog noch einmal an ihrer Tüte. "Alles klar, Janis!", sagte ich und sah dann die amerikanische Wunschbegierde eines sexuell normal Veranlagten an.
"Klar!", meinte Marilyn mit liebreizender Stimme, "Warum geht ihr nicht ins 'Heaven' rüber? Zwölf Wolken von hier und dann links!"
Bruno sprang auf. "He, das ist geil! Lass uns hingehen!"
Wir zogen los. Marilyn wollte nicht mit. Wir schwebten nahezu an den Wolken vorbei, indem wir Bewegungen machten, die einen im Wasser normalerweise vor dem Ertrinken retten, und inmitten des hellblauen Himmels, mit den göttlichen Klängen der Harfenmusik und Sonnenstrahlen von irgendwoher im Hintergrund, erblickten wir die kleine Kneipe. Wir gingen rein.
Gott! Was für eine Erfahrung! Ich war den Tränen nah und so unsagbar gerührt. Ein Tresen ohne Ende, soweit man blicken konnte. Eine Vision, die endlich erfüllt war. Ich setzte mich auf einen Hocker, der im Gegensatz zu den anderen vergoldet war. Ich durfte mich aber nicht darauf setzen, denn er war für Harald Juhnke reserviert. Ich nahm einen anderen, so wie Bruno auch. Ein junger Mann reichte uns sofort zwei Bier rüber. Wir tranken sofort an und hatten Spaß, denn alle Leute, die hin und wieder die Bar betraten, hatten gute Laune und ein Lächeln auf den Lippen. Irgendwann sagte ich zum Barkeeper: "Du, hör mal, ich sauf hier rum und hab gar kein Geld!"
"Wozu Geld? Wir sind im Himmel!"
"Bedeutet das, dass ich hier trinken kann, soviel ich will und nichts dafür zu tun brauche?"
"Sicher!", meinte der Barkeeper. Ich brauchte tatsächlich nichts dafür zu tun. Ich musste weder einen versifften Barkepper beschwatzen, damit er anschreibt oder meinem besoffenen Nachbarn, der mit dem Schädel auf den Tresen geknallt war die Penunzen aus der Tasche zu ziehen und, wenn er wieder aufwacht, behaupten, er schulde mir drei Bier. Auch wurde ich, nachdem ich mich in Bezug auf meine finanzielle Lage geoutet hatte, weder verprügelt noch aus der Tür geschmissen. Was hätte das auch für einen Sinn? Ich wäre ja auf einer weichen Wolke gelandet. Und ich musste auch nicht - was mir bitter aufstieß - irgendeinen versauten Witz erzählen, worauf mir jemand ein Bier ausgab.
"Ich will Musik hören!", sagte ich, und prompt flog mir der Titel, den ich noch nicht einmal ausgesprochen hatte, um die Ohren. Aber nicht wie sonst aus einer quakenden Jukebox, die mit Fettfingerabdrücken übersäht war, sondern einfach von irgendwoher und das in klaren und leicht verhallenden Tönen. Ich traute mich schon nicht mehr, einen Gedanken zu fassen, da ich annahm, er würde gleich erfüllt werden, und als ich das zu Ende gedacht hatte, stand die schwarze, 1,80 m große Kubanerin mit ihren melonenförmigen, strammen Titten auch schon splitternackt vor mir und streifte mit ihren langen Fingernägeln über meinen Liebling, wobei ich feststellte, dass meine Hose sauber gefaltet auf dem gegenüberliegenden Stuhl lag, und sie mich liebesdurstig ansah. Ich war in irgendeinem Zimmer. Brunos unbarmherziges Brunststöhnen drang aus einem Nebenzimmer. Kein Wunder, denn Bruno hatte meiner Kenntnis nach den letzten Verkehr gehabt, als er noch taxi fuhr. "Gott!", dachte ich, "Hier wird ja wirklich alles erfüllt, ich bin ja schon in meiner Gedankenwelt völlig gehemmt!" Weiter kam ich nicht, denn prompt stand die Zweite nackt vor mir. Dieses Mal war es eine blonde Russin von 1,90 m und noch mit der Fellmütze auf dem Kopf. Und noch bevor ich mir nun die geometrischen Möglichkeiten mit drei von diesen Weibern ausmalen konnte, lage ich in den gewünschten Positionen abwechselnd mit ihnen im weichen Himmelbett.
Mir wären jetzt eigentlich Petsys zierendes, zickiges Gehabe und die tröstende Tatsache im Hinterkopf, dass nach langenm Hin und Her irgendwann dann doch ihr Schlüpfer fällt, lieber gewesen als diese drei so heftig an mir arbeitenden Frauen. Deshalb dachte ich "Jetzt ist Schluss!", und schon saß ich wieder am Tresen.
Der Barkeeper goss mir ein Bier in. Das war zur Abwechslung in Ordnung!
Ich wollte jetzt gern schreiben, und schon fand ich mich an einem große Schreibtisch aus Eiche wieder und thronte in einem bequemen Ledersessel. Einen Füller aus purem Gold hielt ich in der Hand, der mit seiner spitze schon ins weiße Hochglanzpapier piekste. Nur fiel mir in diesem Raum nichts Brauchbares ein. Ich ging nach draußen. Aber da waren der golden strahlende Sonnenschein und der hellblaue Himmel und diese nervtötende Harfenmusik, die mir den letzten Verstand raubte. Ich hatte die Nase voll, ich wollte wieder in mein staubmilbenverseuchtes Zimmer, ich wollte, dass der Regen an Scheibe knallt, und dass, wenn ichzur Kneipe rübergehe, dort Toni in seiner schmierigen Schürze steht, dem ich noch drei Bier schulde, und der mich wohlmöglich erst gar nicht reinlässt. Petsy sollte mir zuzwinkern und, nachdem ich ihr erzählt habe, dass ich kein Geld habe, mit Harry losziehen. Ich wollte keine charmante Harfenmusik, sondern mitreißendes Gedudel von den drei übriggebliebenen Seiten der Gitarre von Benny hören. Ich wollte keine himmlische Ruhe haben, sondern der Krach von Autos auf der Straße sollte mir um die Ohren fliegen, und ich wollte Bruno neben mir haben, der mir sagt, er habe Hunger.
"Moment!", sagte eine Stimme über mir, "da muss ich erst mit Gott reden!"
Ich wachte schweißgebadet auf. Stand eine Sekunde später senkrecht im Bett. Ich hatte eine verdammt trockene Kehle und zog mich sofort an. Ich ging zu Toni rüber. Der wollte mich erst nicht reinlassen, gab dann aber nach. Petsy knutschte mit irgendeinem besoffenen Fettsack, dem dabei ein Zehner aus der Tasche fiel. Bennys Gitarre stand an der Theke und war in der Mitte durchgebrochen. Harry hatte sie ihm über seinen ewig jodelnden Schädel gezogen, als er seine Schulden nicht bezahlen wollte, erzählte mir Toni, wobei er mit der Fliegenklatsche einen besonders fetten, grünsilber schimmernden Brummer am Zapfhahn erwischte.
Bruno tippte mich von hinten an: "Wird auch Zeit, dass Du kommst! Wir sollen drüben den Dreck um die Imbissbude aufsammeln, dann macht uns Plaggi auch eine extra Portion Pommes! Los, beeil dich, der wartet und macht die Bude gleich dicht!" Bruno lief aus der Bar. Ich sah mich noch einmal um und lächelte. Bruno hatte Hunger und ich meinen Himmel wieder.
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