erschienen in Kommunikaze 16, Dezember 2005
Chile ist ein Schwellenland
„Ich habe seltsamerweise nicht mehr so viel Kontakt zu Uta. Liegt vielleicht daran, dass wir im Betrieb so selbstständig arbeiten. Wir wollen uns nichts Böses, davon kann keine Rede sein.“
Uta muss eine Freundin oder zumindest Bekannte der beiden Frauen sein, zu denen ich mich in eine typische Fernverkehrszug-Vierer-Sitzgruppe geselle, nachdem ich genauso anständig wie überflüssig die Jüngere der beiden gefragt habe, ob denn der Platz noch frei sei. Ich wusste natürlich zuvor schon, dass dieser Sitz noch zu haben ist, war doch kein Reservierungsbeleg an der Waggonwand auszumachen. Diese kündigen sonst oft mit kryptischen Zeichenkombinationen an, wann man sich hinsetzen darf und wann der jeweilige Platz für einen gewissen Streckenabschnitt nur Hildegard Meyer oder Heribert Bensch zusteht. Warum extra die Abkürzung „Hbf“ für Hauptbahnhof hinter den Ortsnamen steht, weiß ich nicht, hält der Eurocity 100 von Chur nach Kiel, Abfahrt in Bochum um 18.11 Uhr von Gleis 5, doch ohnehin nur an Hauptbahnhöfen. Die Menschen an den Bahnsteigen in Kattenvenne oder Münster-Hiltrup müssen in die Röhre gucken, wenn EC 100 mit 350 Km/h oder so an ihnen vorbeibrettert - Fernverkehr eben.
Ich erfahre, dass Uta seit einem halben Jahr alleine mit ihrem süßen kleinen Sohn lebe, obwohl sie in der Mutterrolle gar nicht so sehr aufgehe. Ihr Mann habe das Kind auch gewollt, nicht sie. Dieser sei inzwischen, weil er wegen einer Deutschschwäche in Utas Heimat keine Anstellung bekommen habe, in die seine zurückgekehrt - Chile. Dort sei er auch, da kompetent und intelligent, sofort an eine leitende Position in einer großen Firma gekommen. Ihm gehe es jetzt richtig gut. „Arschloch.“, mag an dieser Stelle der voreilige Leser denken, genau wie ich es zunächst tue: „Erst der Frau ’nen Braten in die Röhre schieben, und dann, wenn’s zu teuer und stressig wird, wieder ab nach Hause!“ Doch weit gefehlt: Utas Mann sei nur „Vorbereiter“. In Bälde werde Uta sich samt süßem Kind und kompetenten Mann in Chile ein Stelldichein geben und dort versuchen, eine ähnlich gute Anstellung wie in Deutschland zu finden. „In einer Entwicklungshilfeorganisation? So etwas Ähnliches wollte sie doch schon immer machen“, höre ich seit langem wieder meine mit deutlich weniger Gesprächsanteilen ausgestattete direkte Banknachbarin fragen.
Die hat sich als Münsteraner Studentin entpuppt, ist eher alternativ gekleidet, stellt sich ihr zukünftiges Leben in einer kommunenähnlichen Gemeinschaft vor und hat schon einmal ein Jahr in Venezuela verbracht. Zunächst glaube ich zu erkennen, dass sie, wenn nicht genervt, so doch wenigstens etwas gelangweilt von den Erzählungen ihrer gegenüber sitzenden älteren Bekannten ist. Doch dieser Verdacht sollte sich in Kürze als gegenstandslos erweisen. „Na ja, Chile ist ein so genanntes Schwellenland, kein reines Entwicklungsland mehr. Entwicklungshelfer sind eher in Entwicklungsländern.“ erklärt die Ältere der beiden nun, die etwa vierzigjährig und bunt gekleidet ist. Sie drückt sich gewählt aus, ist dabei jedoch stets bemüht, jugendlich und frisch zu klingen. Oft geht ein solcher „Coolness-Versuch“ nicht mehr ganz jugendlicher Menschen, wenn auch mehr oder weniger gekonnt durch gelegentliche Lacher und Grinser aufgepeppt, ja mal richtig in die Hose. So auch heute.
„Uta wird es schwer haben, in Chile als Entwicklungshelferin eine Stelle zu bekommen. Sie wird wohl erstmal bei ihrem Kind bleiben. Aber ich wünsche ihr so sehr, dass sie eine Anstellung bekommt; Hauptsache, das eigene Geld verdienen und finanziell auf eigenen Beinen stehen!“ Beiden entgleitet nach dieser Feier der weiblichen Emanzipation ein triumphales Lachen. Gleich werden sie den Höhepunkt ihres Gespräches erreichen, denke ich und hoffe, dass dies noch vor der Ankunft in Münster sein wird. Denn dort möchte ich in die Regionalbahn 29292, Abfahrt 19.04 Uhr von Gleis 8, umsteigen. Nicht auszudenken, was ich verpassen könnte, sollten meine Sitzgruppennachbarinnen ihr Gespräch bis Münster nicht beendet haben.
Folglich gilt es also, die verbleibende Zeit eisern zu nutzen und im Dienste des Spitzenjournalismus am Ende vielleicht sogar eine Super-Story draus zu machen! Mit neuerwachtem Feuereifer konzentriere ich mich mit aller Kraft auf das Gespräch meiner beiden Sitznachbarinnen, und mir fällt auf, dass das Unterhaltungsthema inzwischen zu dem Auslandsaufenthalt der jungen Münsteranerin in Venezuela übergegangen ist: „Ich möchte so gern wieder hin. Es war so schön.“ schwärmt sie und erzählt weiter: „Als ich nach dem Jahr in Südamerika nach Deutschland zurückgekommen bin, brauchte ich erstmal meine Zeit, um mich wieder einzugewöhnen. Es war so schlimm! Es hat etwa drei Monate gedauert, bis es wieder einigermaßen ging. Mit meiner Familie bin ich kurz nach meiner Rückkehr natürlich auch nicht zurechtgekommen, sie haben es einfach nicht verstanden, wenn ich mal eine Stunde in der Natur einfach nur meditieren wollte.“ - „Verständlich.“ denke ich. - „Und das habe ich einfach gebraucht, ich habe das öfter gemacht. Es war meine Art, mich wieder in Deutschland einzuleben. Auch viele meiner Freunde fanden das seltsam, sie wollten eher mit mir unter Leute gehen, damit ich mich wieder einlebe.“ - „Total bekloppte Idee“, denke ich, „Scheiß-Freunde hast Du!“
Nach einer verglichen mit dem bisherigen Gesprächsverlauf enorm langen Sprechpause der Älteren, in der sie sich lediglich mimisch zustimmend geäußert hat, ergreift diese nun wieder das Wort: „Du, das war bei mir genauso, als ich vor einigen Jahren aus Afrika wiedergekommen bin. Ich bin auch monatelang nicht klar gekommen. Das Schlimme ist ja, dass die Deutschen sich das Elend da einfach nicht vorstellen können. So etwas wie keinen Strom oder kein fließend Wasser zu haben, ist doch für die alle unvorstellbar. Die regen sich doch nur über Banalitäten auf. Da braucht nur mal ein Zug ein Stündchen Verspätung zu haben und schon wird gemotzt.“ Mit einem plötzlich auftauchenden breiten Lächeln klopft sie ihrem Gegenüber kräftig auf die Schenkel und spricht: „Aber weißt du was? Dafür sehen wir die Welt jetzt mit ganz anderen Augen. Ich lebe seitdem viel bewusster. Die banalen Probleme anderer nehme jetzt ich immer sehr locker. Liebeskummer oder so etwas. Es gibt viel Schlimmeres auf der Welt. Man muss das eben einfach mal mitgemacht haben.“ Dass sich ihre Gesprächspartnerin während dieser Äußerungen durch nickende Zustimmungen in Ekstase versetzt hat, nehme ich nur am Rande wahr. Es war ja auch zu erwarten.
Gedanken versunken fahre ich gen Münster. Meine Fassungslosigkeit über die allgemeine deutsche Ignoranz gegenüber den wahren Problemen der Menschheit weicht Kilometer für Kilometer, die EC 100 zurücklegt, mehr und mehr der Bewunderung für meine zwei Sitzgruppennachbarinnen. Sie haben es verstanden, das Leben leben zu lernen. Fantastisch, ich habe durch ein Bahnerlebnis ein großes Stück der Suche nach dem Sinn des Lebens zurückgelegt: Reisen in Entwicklungs-oder eben Schwellenländer zur Verbesserung unserer Lebenseinstellung. Dafür ist Entwicklungshilfe also wirklich gedacht. Irre!
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