erschienen in Kommunikaze 19, Juni 2006
Folge IV: Abenteuerurlaub oder Apokalypse Mersch
Wer träumt nicht davon? Ein aufregender, abwechslungs- und erfahrungsreicher Urlaub!Viele Leser werden dabei sicherlich gleich an Freeclimbing, Para- oder was auch immer- gliding, Dschungel-, oder Schatzjägertouren denken. Manch einer möchte wohl gar eine richtige Piratentour bestehen. So etwas ist übrigens - wider Erwarten - in der Türkei möglich. In so genannten „Schmugglerhöhlen“ mit scharfkantigen Felsen und gewaltigem Wellengang erhält der Abenteurer dort Gelegenheit, sich ohne weitere Umstände äußerst männliche Wunden zuzuziehen, um mit selbigen zurück an Bord eines motorisierten Seelenverkäufers andere Freizeitfreibeuter kräftig zu beeindrucken, während die Crew der klapprigen Piratenjolle eifrig darum bemüht ist, die rote Färbung des Promenadendecks zu beseitigen und die Verletzungen mit Indianerfarbe zu mildern.
Das aufregendste Abenteuer aber konnte ich heute, gerade eben erleben. Und das, obwohl ich mich überhaupt nicht im Urlaub befinde: Es ist Freitag, der 14. Oktober 2005, 20.43 Uhr. Noch immer läuft mein dreimonatiges Ruhrpottpraktikum und zurzeit sitze ich in der Regionalbahn von Münster nach Osnabrück. Eigentlich sollte dieser Streckenabschnitt bereits seit anderthalb Stunden hinter mir liegen, doch bin ich nach zwei Stunden Chaos im Personenzugverkehr der Deutschen Bahn des Klagens müde. Vielleicht überwiegt in mir auch ein Glücksgefühl, nehme ich doch immer deutlicher wahr, dass ich am Leben bin. Das kann freilich nicht jeder der Bahn Nutzenden des heutigen Tages von sich behaupten – in welcher Weise man auch immer die Züge für seine Zwecke verwendet haben mag. Aber der Reihe nach:
Mit einem lachenden und einem weinenden Auge habe ich Ende letzter Woche registriert, dass zurzeit Herbstferien in Nordrhein-Westfalen sind. Für mein Pendlerdasein bedeutet dies glücklichere Zeiten für meine Brieftasche, da mir der Nahverkehrsfahrschein „SchöneFerienTicket NRW“ günstige Bahnpreise auf der täglich zu fahrenden Strecke zwischen Osnabrück und Münster verschafft. Nahverkehr bedeutet aber auch: zwei Mal Umsteigen und drei Nahverkehrszüge pro Turn. Das heißt: Ohne zehn bis zwölf Quäntchen Glück und eine gehörige Portion Gottvertrauen hat gleich nach Feierabend der Regionalexpress zwischen Bochum und Hamm mehr als sieben Minuten Verspätung, was insgesamt wegen unerreichbaren Anschlusszügen eine Stunde Zeitverzug bedeutet. Heute aber gehe ich glückselig zum Bochumer Hauptbahnhof, wird es doch nach dem anstehenden Wochenende nur noch fünf weitere Arbeitstage des Praktikums geben. „Wenn heute der RE nach Hamm Verspätung hat, ist es auch egal.“ denke ich schmerzfrei. Doch welch positive Fügung! Der Zug fährt erstmals pünktlich in den Bahnhof ein – und das an einem Freitagabend. Das Schicksal scheint es heute ausgesprochen gut mit mir zu meinen. Da erfahrungsgemäß auf die Anschlusszüge mehr Verlass als auf den Regionalexpress ist, den ich gerade besteige, schwebe ich geradezu der Heimstatt entgegen, in der Kind, Kegel und holdes Weib auf mich warten. Doch Schockschwerenot, beim Ausstieg in Hamm dringt die erste Posaune der Apokalypse per Lautsprecheransage an mein Ohr: „Sehr geehrte Fahrgäste, die Strecke Hamm – Münster ist auf Grund eines Personenschadens bis auf Weiteres gesperrt. Für Reisende in Richtung Münster wird ein Schienenersatzverkehr eingerichtet. Abfahrt vor dem Bahnhofsgebäude gegen 18.30 Uhr.“ „Personenschaden – Schienenersatzverkehr“, die unter Bahnfahrern am stärksten gefürchteten Worte des Bahnhofvokabulars klingen in meinen Hirnwindungen eine Weile nach. Oh wie viel lieber wäre mir ein blutrot gefärbter Nil oder eine Heuschreckenplage. Doch ich habe keine Wahl: Etwa um 18.45 Uhr kommt mir der Schienenersatzverkehr auf dem Bahnhofsvorplatz entgegen. Es handelt sich um einen vielleicht 30sitzigen Linienbus, auf den neben mir etwa 300 Menschen warten. Geistesgegenwärtig eile ich dem Vehikel entgegen, um vor allen anderen in es zu dringen, einen Sitzplatz zu ergattern. Mir gelingt es tatsächlich die zehnprozentige Chance zu nutzen - ich sitze. Zwar stinkt der alte Herr neben mir bestialisch und ein Gleiches tut die Dame hinter mir, deren heißer Atem beständig meinen Nacken streift, doch immerhin scheint es bald loszugehen. Dann aber reißen dem Busfahrer vor der Abfahrt doch die Nervenstränge: Nach zahlreichen Ansagen fühlt er sich unter heftigem Fluchen veranlasst, einem Ehepaar einen riesigen Seesack zu entreißen, der offensichtlich die Hintertür blockiert hatte. „Lassen Sie die verdammte Tasche hier, Sie sehen doch, dass die Tür nicht zugeht!“ schreit der hochrote Schnauzbärtige. Als das Paar nicht gehorcht, droht die Situation zu eskalieren. Auch meine Hinterfrau äußert sich zu meinem Bedauern recht atemintensiv zu dem Vorfall, genau wie die meisten anderen Gäste im Bus. Als der Streit noch intensiver wird, werfe ich einen flehenden Blick zum Himmel: Nein, die vierte Posaune ist noch nicht ertönt. Leider regnet es kein Feuer vom Himmel, wohl aber Wasser und das nicht zu knapp. Nachdem der Koffer dann doch so verstaut ist, dass sich die Tür schließen lässt, rollt der Bus unter den entgeisterten Blicken der etwa 240 geprellten Exbahnreisenden, die doch einfach nur mit der Bahn nach Münster fahren wollten, vom Hammschen Bahnhofsvorplatz. Während der Busfahrer keifend per Mikro über das Ziel der Reise philosophiert und als Ergebnis das auf halber Strecke zwischen Hamm und Münster gelegene Mersch festhält, denke ich über den Personenschaden nach, der für die Sperrung der Bahngleise verantwortlich war und uns Fahrgästen diese Misere bescherte. Eine junge gescheiterte Existenz wird sich vor einen Zug geworfen haben. Doch warum nur mit solch einer Geltungssucht? Welcher Egoismus hat diesen Menschen dazu gebracht, mit seinem Lebensende so viele brave Bürger zu belästigen? Hätte es nicht eine stille Spritze Insulin in der Wohnung auch getan? Ohne eine befriedigende Antwort in dieser Sache gefunden zu haben, treffen wir auch schon um 19.44 Uhr in Mersch ein. Doch bereits beim Lesen des Ortsschildes ahne ich: Der Name muss eine Tarnung sein. Es kann sich nur um die große Hure Babylon handeln. Hier lauert die vielköpfige Chimäre auf uns – der Antichrist! Und so wartet am Bahnhof auch schon seine erste Verführung: ein haltender Zug. Doch alle Hoffnung meiner Mitreisenden auf eine rasche Weiterfahrt nach Münster erlischt bei der schnellen Befragung des Zugführers, der nach eigener Aussage jawohl nichts dafür könne, dass er nicht fahren dürfe und auch nicht wisse, wann und ob wir abgeholt würden. Ich habe es also gewusst, der Zug war einer der Chimärenköpfe. Noch viele weitere sollten an diesem Abend durch Babylon fahren, uns voller Hohn und Spott anlachen, wenn sie nicht halten und die verzweifelt Wartenden am Bahnsteig zurücklassen sollten.
Bis vor wenigen Minuten war ich mir sicher, an diesem Abend vom Antichristen verschlungen zu werden, doch nun sitze ich wieder sicher in einer Regionalbahn. Während ich diese Zeilen schreibe – es ist mittlerweile 21 Uhr geworden – wandern meine Gedanken an den bald erreichten heimeligen Kamin und den allabendlichen Cognacschwenker. Noch einmal scheint der Tag der Apokalypse hinausgezögert, doch die Bahn hat mich gelehrt, dass er uns unweigerlich bevorsteht.