erschienen in Kommunikaze 1, Januar 2003
Das alte Spiel: Wieder mal unterwegs mit Bus und Bahn durchs schöne Deutschland, draußen zieht eine weiße Puderzucker-landschaft vorbei, und drinnen steppt der Bär, und das geht so:
In Bus und Bahn, so lehrt uns der Feuilletonjournalismus, trifft man allenthalben die tollsten Charakterköpfe, Menschen, die eines Tages zweifelsohne die Welt retten werden oder es vielleicht gar täglich tun. Mein Fall ist nun aber leider dieser: Ich treffe, wann immer ich mich im ÖPNV bewege, nur ganz, ganz seltsame Gestalten, die sicherlich noch nie die Welt gerettet haben, vielleicht noch nicht einmal den eigenen Verstand, und dann ist ja wohl alles klar, aber weiter:
Das erste ungute Gefühl erfasst mich schon beim Platznehmen in dieser Regionalbahn. Bin ich ein Rassist oder ein elitäres Arschloch, wenn ich beim Anblick von Daunenjacken in Kombination mit grellbunten Fußballschals sofort warnendes Bauchgrimmen empfinde? Und wenn dem so sein sollte, ich also das eine und/oder das andere bin, warum habe ich dann meistens recht mit diesem Eindruck?
Beim Gespräch der fraglichen jungen Herren geht es um Bier in jeder seiner möglichen Darreichungsformen. Welche Sorte? Dose oder Flasche oder Fass? Herb oder eher weniger? Völlig unerheblich! Hier gilt nur: Hauptsache voll bis unter die Mauerkrone. Der chronologische Abriss des letzten halben Jahres gerinnt den beiden Cervesionisten dann auch prompt zum regelrechten Kunstfilmexperiment: Reichlich verschwommen, in weiten Teilen unverständlich, dabei aber jede Menge Tschingerassa-bumm! Hier wird der Filmriss zum Selbstzweck, und die Hackordnung bemisst sich wohl in Kubikmetern von Erbrochenem. Als die beiden Theoretiker die deutsche Lebensqualität dann auf die einfache Formel „Holland geiler, weil da kein Dosenpfand und deshalb Bier billiger“ bringen, muss ich leidergottseidank schon aussteigen, aber das wenige Gehörte lässt selbst mich - alles andere als einen Abstinenzler - an die alte Schauermär glauben, übermäßiger Alkoholkonsum müsse wohl (wie übrigens auch Coca Cola, Ketchup und zwanghafte Onanie) Schwachsinn, Zahnausfall und Rückgratverkrümmung hervorrufen.
Im ersten Moment bin ich also geneigt, mich in das komfortable Gefühl der eigenen intellektuellen Überlegenheit zu versenken, aber dann erfassen mich schreckliche Zweifel: Wie kann ich mich denn beklagen? Ich hätte mich ja woanders hinsetzen können. Nein, vielleicht bin ich es ja, mit dem etwas nicht stimmt, vielleicht zieht es mich ja geradezu in die Gegenwart schrecklicher Fußballschalträger, vielleicht fühle ich mich ja regelrecht gezwungen, sie zu belauschen, damit ich darob dann ein paar Seiten vollkritzeln kann.
Vielleicht - und daran wage ich kaum zu denken - steuert alles in meinem Leben auf ein Dasein als Feuilletonjournalist hin...
Andererseits...falls das der Fall sein sollte, vielleicht treffe ich dann eines Tages im öffentlichen Personennahverkehr auch endlich mal Charakterköpfe und Weltenretter...
Warten wir’s ab!
- Startseite
- Wir & Ihr
- Printmagazin
- Onlinemagazin
- Kommunikaze live
- Onlineshop
- Reklame
- Gäste
- Links
- Kontakt/Impressum