Erschreckendes

von Tobias Nehren

erschienen im Rahmen der Titelrubrik in Kommunikaze 21, Oktober/November 2006

Erschreckendes ereignete sich in den Julitagen des Jahres 2006. Das große Fußballturnier war gerade vorüber und hatte das Land in einen nie erlebten Rausch geführt, einen Taumel der Gefühle. Viele weniger euphorisierte Beobachter hatten das Treiben der Fans, die sich lautstark feiernd durch deutsche Straßen bewegten, mit kritischen, ja teilweise angeekelten, Blicken verfolgt. Aber was sich in diesen Tagen kurz nach der Fußballweltmeisterschaft auf einem Festplatz mitten in Nordrhein Westfalen zutrug, dass bedarf einer kritischen Nachbetrachtung. Schon allein, um es herauszuschreiben aus dem Kopf und vielleicht auch aus den Träumen des Reporters, der dieses Elend, diese Abgründe menschlichen Daseins sehen, ja erleben musste.

Man mag sich in eine Militärparade des 19. Jahrhunderts zurückversetzt fühlen: eine Menschenmenge, alkoholisiert und in feinen Zwirn gewandet, versammelt sich um eine runde Grasfläche, auf der eine Dame mittleren Alters gerade ihre Runden dreht.
Eine Einheimische, die ich mitgenommen habe, damit sie mir die Geschehnisse quasi synchron übersetzen kann, erklärt mir, dass dies die „Schützenkönigin“ des Jahres 2005 sei, die gerade mit ihren „Hofdamen“ das Volk begrüßt. Ach ja denke ich: Die „Schützenkönigin“ begrüßt also das „Volk“. In ihrem Schlepptau befinden sich ca. 10 bis 15 mehr oder weniger junge Damen in Ballkleidern. Sie wedeln dem  Volk ihre in Handschuhe aus Seide, oder irgendein Stoff der wenigstens aus der Ferne aussieht wie Seide,  gewandeten Hände, oder irgendetwas das zumindest aus der Ferne an Hände erinnert,  entgegen.
In der Mitte der Grasfläche sitzt derweil ein Mann auf einem Ross. Er ist, so wird mir erklärt, der „Schützenkönig“, der seinen „Hofstaat“ gerade dabei beobachtet, wie er die Parade abhält. Ich frage nach, wer denn neben ihm zu Fuß und zu Ross noch so steht, weil die ca. zehn uniformierten und mit Gold und allerlei Klimbim behängten Männer eigentlich keine rechte Funktion zu haben scheinen. Außer dass sie wahnsinnig ernst gucken und eben schön in der Sonne funkeln, mit ihren goldenen und silbernen Abzeichen. „Das sind die Minister“, wird mir übersetzt, „Ach die Minister, sind das!“ entgegne ich, mit  einem an der Ernsthaftigkeit der Veranstaltung zweifelnden Unterton und bekomme die Antwort, die eher schnippisch, als rein informativ klingt: „Ja die Minister sind das, die werden vom Schützenkönig in der Hofstaat berufen und unterstützen ihn bei seiner Arbeit!“. „Klar, was sollen Minister auch sonst tun, als den König bei seiner Arbeit zu unterstützen“. Ich frage nicht nach den einzelnen Ressorts der „Minister“, weil ich sonst meine Dolmetscherin verärgern könnte, was dazu führen würde, dass sie mich allein ließe auf dieser Veranstaltung. Vielleicht würde ich dann auf unverzeihliche Weise gegen das königliche Protokoll verstoßen, und der Schützenkönig würde mich dann verurteilen. Einer seiner Minister, vermutlich der Justizminister oder der Minister des Inneren, wahrscheinlich eher nicht der Minister für funkelnden Klimbim, würde dann damit beauftragt, mich zu exekutieren. Da ich das nicht so gut fände, entschließe ich mich, einen Moment den Mund zu halten.

Die nächste Stunde über passiert nicht mehr allzu viel, was man nicht auch schon bei irgendeiner Übertragung oder irgendeiner Königs oder Prinzessinnenhochzeit irgendeines europäischen Herrschergeschlechts gesehen hätte. Viele Menschen rennen in ihren bunten Uniformen auf dem Rasen herum und zeigen ihren funkelnden Klimbim, während die Frauen immer wieder eine Runde drehen und ihr mehr oder weniger (meistens eher weniger) vorhandenes „Perl-Weiß“ Lächeln zeigen.

Da die Veranstaltung also langweilig zu werden beginnt, denn die erste Verwunderung über die Geschehnisse hat sich gelegt und ist einer gewissen Gleichgültigkeit gewichen, kommt mir der Satz: „Die unterstützen den König bei seiner Arbeit“ wieder in den Kopf. „Arbeit“? hallt es in meinem Schädel wieder. Das ist ein Schützenkönig, denke ich, was soll der schon zu arbeiten haben. Ich frage also nach und meine Begleiterin antwortet mir: „Frag doch nicht so doof! Der muss viele repräsentative Aufgaben übernehmen! Über das Jahr verteilt  besucht er die anderen Schützenfeste und repräsentiert den Schützenverein.“ So langsam wird mir bewusst, dass meine Begleiterin so ganz objektiv nicht zu sein scheint. Denn in ihrer Stimme liegt eine Ernsthaftigkeit, die ich nicht aufbringen könnte, wenn ich über einen Mann und seine Kumpels spreche, die sich grüne oder wahlweise blaue Jäckchen anziehen, Mützen aufsetzen, die Jugendliche als Zeichen pubertärer Rebellion vielleicht 1855 getragen haben mögen, und sich über und über mit glänzendem Gebimmel behängen, während sie über eine Rasenfläche marschieren.

Naja. Ich beschließe, dass ich von der Parade genug gesehen habe, um zu begreifen, dass man von so einer Parade immer genug gesehen hat. Das weitere Übel nimmt seinen Lauf an einem der zahlreichen Getränkestände. Zahlreich ist in diesem Zusammenhang wohl auch das falsche Wort, denn zählen könnte ich die Biertankstellen nicht. Biertankstellen ist hier allerdings die durchaus korrekte Vokabel, denn sowohl Kunde als auch Dienstleister haben sich auf  Betankung, oder besser Druckbefüllung, der vom vielen Marschieren und blinkende Dinge Tragen durstig gewordenen Kehlen und Bäuche spezialisiert. Als ich ein alkohlfreies Bier bestelle, muss der Wirt augenscheinlich lange auf seiner Festplatte nach dem Wort alkoholfrei suchen, bis er es in einen Zusammenhang mit dem Wort Bier setzen kann. Verwunderung von rechts wie links erntend, wende ich mich wieder meinen Beobachtungen zu.

Der Truppenaufmarsch ist vorüber, und nun mischt sich des Königs Armee unter das gemeine Volk und versorgt sich mit allerlei Leckereien. Meine Begleiterin gesellt sich wieder zu mir und wird von einer ihrer Bekannten gefragt, ob sie auch einen „Ömmes“ wolle. Sie verneint. Ich frage: „Einen was?“ Sie: „Einen Ömmes, dass ist so ein Stück Fleisch vom Grill. Da, der Mann da isst gerade einen.“ Mit diesem Satz zeigt sie auf einen Mann, der schon aufgrund der mangelnden Uniformierung zunächst sympathisch wirkt, sich dann allerdings durch das Stück „Ömmes“ vor sich degradiert: ein etwa handflächengroßen Brocken, der wohl mal in irgendetwas Vierbeinigem befestigt war. Auf die Nachfrage warum dieses Gebilde nun gerade „Ömmes“ hieße, weiß meine Begleiterin auch keine Antwort, nur, dass der Mensch der es verkauft auch so genannt wird. Ich erblicke ihn in seiner Grillbude in einigen Metern Entfernung und stelle mir die Frage nach dem Huhn und dem Ei: Heißt der Mensch „Ömmes“, weil er Brocken verkauft, die wie Ömmes aussehen? Oder heißen die Brocken Ömmes, weil sie von einem Menschen verkauft werden, der diesen Namen aus verständlichen Gründen trägt?

Egal, denke ich mir und wende mich wieder dem eigentlichen Geschehen zu. Dies, so soll sich aber nun herausstellen, nimmt nun endgültig eine Wendung hin zum Abgründigen: Mit jeder Minute, oder besser: mit jedem Hektoliter Gerstensaft, der von den Tankstellen in die Bäuche und leider auch in die Köpfe der Leute gepumpt wird. Beginnend damit, dass ca. 400 Personen ihre Hände, passend zur Zeile des gleichnamigen Liedes, in den Himmel recken und lauthals Mitlallen. Wenig später wird dann das Gurren der Tauben aus dem Klassiker „Drei weiße Tauben“ nachgeahmt, wobei der Alkohol die phonetischen Fähigkeiten so manch menschlicher Taube schon derart degradiert hat, dass dabei eher ein Röcheln als ein gepflegtes Gurren zu vernehmen ist.

Den Beschluss, zu gehen und mir meinen letzten Glauben an den zivilisatorischen Fortschritt zu bewahren, den uns Millionen von Jahren gebracht haben sollten, treffe ich endgültig, als Folgendes passiert:

Der König betritt die Bühne. Die Haube, Mütze, Kappe oder wie auch immer der Name der Kopfbedeckung sein mag, sitzt nur mehr schief und krumm auf seinem aristokratischen Haupt, und der Schweiß hat nicht nur seine Stirn gezeichnet, sondern auch deutliche Spuren unter seinen Armen hinterlassen. Begleitet wird er von Ömmes, der seine Schürze mittlerweile  abgelegt und sich stattdessen mit einem musikalischen Accessoire ausgerüstet hat, einer aufblasbaren Gitarre. Die beiden sollen nun also den Mainact, das Highlight, die Klimax dieser Festivität bilden. Und das gelingt ihnen auf gewisse Weise auch, denn ihre Interpretation des Bryan Adams-Hits: Summer of ´69 ist nicht einmal mehr als Realsatire zu bezeichnen. Vielmehr hätte ich mir lieber ein Konzert der Gruppe „Squirrel-Eating Warlords“ angeschaut, als dies ertragen zu müssen: Der König der Schützen übernimmt irgendwann die „Luftgitarre“ seines kongenialen Duopartners „hottet“, wie er wohl sagen würde, so richtig zu dieser „geilen Scheibe“ ab, während Ömmes sich, unter dem johlenden Beifall des Publikums, seiner Kleider entledigt.

Mehr kann ich leider von dieser Veranstaltung nicht berichten, denn meine Schmerzgrenze ist an diesem Punkt weit überschritten. Ich gehe nach Hause und muss gucke noch ein paar Stunden NeunLive. Endlich normale Leute!

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